Pirschen in einer Anpflanzung
Vor vielen Jahren erhielt ich einmal die Einladung eines Revierleiters auf einen Rehbock, der zum Ärger des Forstmannes seinen Einstand in einer neuen Anpflanzung hatte. Der Revierleiter erklärte mir, wo ich den Überstieg über den Zaun finden konnte und wo der kleine, für mich vorgesehene Drückjagdsitz, innerhalb der Anpflanzung stünde. Vor Kurzem hätte man sie von Brombeeren befreit. Es wäre nicht ganz einfach, den Sitz zu erreichen.
Am nächsten Tag machte ich mich auf den Weg zur Anpflanzung, überwand auch sofort den Überstieg und staunte nicht schlecht. Überall standen zwischen den Bäumchen die „Stoppeln“ der abgeschnittenen Brombeeren. Wie sollte man es da lautlos zu dem einhundert Meter entfernten Drückjagdsitz schaffen? Ich steckte meine Dackeldame Quitte in den Rucksack, denn sie störte hier tatsächlich. Sie wärmte mir den Rücken und leckte an meinen Ohren. Solche Beweise der Zuneigung seines liebsten Jagdfreundes nimmt jeder Jäger sicherlich gerne hin.
Dann ging es los. Der Wind stand von rechts. Da es hier unmöglich war, lautlos zu pirschen, ich aber den Bock auf jeden Fall strecken wollte, benahm ich mich wie ein äsendes Stück Schalenwild. Immer wieder machte ich drei bis fünf Schritte, um anschließend länger zu verhoffen und einige Gräser zu rupfen. Es dauerte ca. dreißig Minuten, bis ich den Drückjagdbock erreichte, ihn vorsichtig erstieg und es mir auf ihm bequem machte. Ich trug Volltarnung mit Jacke, Gesichtstarnung und Tarnhandschuhen. Quitte verließ den Rucksack und schnüffelte den Boden des Sitzes ab. Neben dem Sitz befand sich ein großer Brombeerenschlag. Zu ihm ging die Nase meines Hundes immer wieder. Er nahm Blickkontakt zu mir auf, um mir etwas mitzuteilen. Da ich nicht reagierte, beruhigte er sich, rollte sich auf dem Rucksack ein und schlief den Schlaf der Gerechten. – Hier hätte ich eigentlich stutzig werden müssen. – All` meine Hunde nahm ich zu jedem Reviergang, sei es mit der Waffe, der Kamera, oder auch ohne jegliche Ausrüstung, mit. Bei jedem gemeinsamen Ansitz zeigten Sie mir das Wild an, lange bevor es in Anblick kam. Sie waren, ohne jeglichen Zwang, absolut ruhig und nur wenn eine Distanz von zehn Metern zwischen Wild und meinen Hunden unterschritten wurde und meine Hand nicht beruhigend über ihren Kopf streichelte, flippten sie aus.
Wir hatten Anfang August und so nahm ich nach geraumer Zeit meinen Rehlocker zwischen die Lippen und begann ein Konzert zur Freude des roten Freiherren. Der Standortfiep blieb ohne Reaktion. Vom Fiep der Ricke hatte ich gerade die zweite Serie in verschiedene Himmelsrichtungen geblasen, als ich hinter mir das leise Brechen eines Ästchens vernahm. Vorschichtig drehte ich meinen Oberkörper und meinen Kopf. Dann erstarrte ich und wagte kaum mit meinen Augenliedern zu schlagen. Ich blickte auf fünfzehn Meter Entfernung in das eisgraue Gesicht eines alten Bockes. An eine Bewegung und an einen Schuss war nicht zu denken. Nach wenigen Sekunden zog sich der Bock um einige Schritte zurück, um sich mir wieder zuzuwenden. Das wiederholte sich fünfmal, dann war der rote Freiherr verschwunden. Seinen Äser hat er nicht einmal geöffnet und damit zu einem Schreckkonzert ausgeholt. Was mag er wohl gedacht haben? War ich für ihn ein übergroßer Uhu, der da auf dem Holzgestell hockte?
Jetzt atmete ich zuerst einmal tief durch. Geblattet habe ich während dieses Ansitzes nicht mehr.
Es wurde dämmerig. Vor mir vernahm ich wieder ein Geräusch. Da schoben sich aus den Brombeeren neben meinem Sitz drei starke Sauen, gefolgt von neun ca. 40 Kg starken Frischlingen. Sie zogen nahezu geräuschlos an meiner Leiter vorbei und verschwanden im Durcheinander der Anpflanzung. Schon vernahm ich das Klingeln des Zaunes und wusste, dass sie ausgewechselt waren. Ich wartete noch zehn Minuten und trat meinen Rückweg, ebenso leise wie den Hinweg, an.
Am nächsten Tag war ich wieder gegen 10.30 Uhr vor Ort. Mein gestriger Pirschgang wiederholte sich. Kaum saß ich auf dem Drückjagdbock, erblickte ich den alten Bock ca. vierzig Meter entfernt. Er kam mit Eifer seinen Hochzeits-Pflichten nach. Durch eine Lücke zwischen den Bäumchen hindurch, setzte ich ihm das Geschoss aufs Blatt. Er lag im Feuer. Ein siebenjähriger Bock hatte mir und meinem Hund sehr viel Freude bereitet.
So viel zum eigentlichen Geschehen.
Wenn ich nicht diese besondere Art der Pirsch ausgeübt hätte, wäre eine Erlegung des Bockes innerhalb der Anpflanzung sicherlich nicht gelungen. Um zum Ziel zu kommen, muss man seine Gewohnheiten während der Pirsch denen des Wildes anpassen. Dass ich mich auf diese Art an eine Rotte Sauen anpirschen konnte und sie von mir nicht beunruhigt wurde, ist das besondere Schmankerl obenauf.
Die Pirsch mit dem Pferdewagen
Mitte der 1970 er Jahre lernte ich auf zwei Besuchen unserer ungarischen Nachbarn die Pirsch mit dem Pferdewagen lieben und schätzen. Sie gehört zu den liebsten jagdlichen Erinnerungen meines Lebens. Der Duft der Pferde am Morgen, ihre ruhigen Schritte,
die gesamte Stimmung der Besatzung unserer Kutsche, all` das wird mir stets in Erinnerung bleiben. Wir konnten auf unglaublich kurze Entfernungen an allen Wildarten vorbeikutschieren, ohne dass wir vom Wild überhaupt beachtet wurden. Kam ein zu bejagendes Stück Wild in Anblick, rutschte der Jäger aus der fahrenden Kutsche, sprang hinter einen Baum und versuchte den Rehbock, das Schwein, oder das Stück Kahlwild zu erlegen, während die Kutsche weiterfuhr. Das Wild achtete auf das Pferdefahrzeug und nicht auf den Jäger. Auch überdeckte der Geruch der Pferde den „Gestank“ der Jäger.
Wenn das Absteigen während der Fahrt unmöglich war, fuhr man bis hinter die nächste Weg-biegung, stieg dort aus und pirschte von dort aus das Wild an.
Es war schon abenteuerlich, wenn der Kutscher bei Dunkelheit plötzlich die Feststellbremse seines Gefährts drehte, sich die Kutschenbeleuchtung schnappte, zehn Meter hinter der Kutsche Aufstellung nahm und, mit seinen Armen wild fuchtelnd und dabei die Lampe heftig schwenkend, einen sich nähernden Lastwagen am Auffahren hinderte.
Ein übermüdeter LKW-Fahrer war jedenfalls das größte Risiko auf unseren Jagdfahrten.
Erlebnisse zur frühen Stunde
Das ein solcher Pferdewagen den Mut der ungarischen Hausfrauen stärken konnte, erlebten wir bei einer Fahrt am frühen Morgen. Zur „Blauen Stunde“ fuhren wir durch ein kleines Dorf. Die Konturen der Büsche und Bäume waren gerade deutlich zu erkennen. Plötzlich erscholl ein wüstes Gezeter aus dem Garten eines umzäunten kleinen Hauses, ein Gezeter, wie es Frauen mit hohen Stimmen bei Erregung von sich geben. Die Besitzerin der Schallquelle stand hinter einem hohen Staketentor und war mit einem Eimer bewaffnet. Diesseits des Tores stand ein Mann, der eifrig, aber ohne Erfolg, auf sie einzureden versuchte. Als wir mit unserer Kutsche vorbeifuhren, holte das kreischende Bündel aus und schüttete den Inhalt des Eimers seinem Gegenüber über Kopf und Körper. Wir konnten uns vorstellen, welchen Inhalt der Eimer hatte. Klares Wasser war es mit Sicherheit nicht.
Sofort erreichte die bisher aufgebrachte Lautstärke nur noch die Hälfte ihrer vorherigen Intensität und der Mann zog, im wahren Sinne des Wortes „bedröppelt“, die Frau jedoch sehr zufrieden, ab. Wir in der Kutsche und auf dem Bock lachten uns krumm und schief.
Dieses Erlebnis toppte alle Ereignisse des Tages und ließ uns über Tage hinweg nicht mehr los.
Gerd Tersluisen (Hegering Gladbeck)