Von Gerd Tersluisen, Hegering Gladbeck

Am Morgen war es, gegen 5.00 Uhr, als ich lange vor Sonnenaufgang mit meinem PKW tief ins Münsterland fuhr, um eine Besonderheit dieser Gegend zu finden und zu erkunden.
Der Frühnebel, der über den Feldern waberte, versprach einen herrlichen Tag. Die „ blaue Stunde“ wurde ihrem Namen gerecht. Langsam wurde es heller und das noch schlummernde Sonnenlicht verzauberte die Landschaft von grau nach blau. Wie herrlich ist es doch hier, im ebenen weitläufigen Münsterland, in dieser großartigen Parklandschaft. Grüne Felder wechselten mit kleinen Wäldern ab. Irgendwo passierte man ein Gehöft, das aber nicht altväterlich erhalten, sondern modern erneuert dastand. Durch das offene Wagenfenster drang der Duft frisch geschnittenen Grases ins Wageninnere.
Fleckvieh ruhte widerkauend auf den Weiden. Blanke Pferde hatten sich erhoben und bestaunten den frühen Autofahrer, der sie anscheinend irritierte.
Irgendwo schaukelte eine Weihe über das Wiesen- und Ackerland. Sie gehörte offensichtlich zu den Frühaufstehern in der Vogelwelt.
Mein Weg führte mich an Borken vorbei in Richtung Vreden. Langsam zeigten sich die ersten Sonnenstrahlen. Auch ohne leichte Bewölkung wurde der Himmel in sattes Orange  getaucht und ein herrlicher Sonnenaufgang belohnte mich für meine radiofreie Fahrt ins Zwillbrocker Venn, unmittelbar an der  Grenze zu Holland. 
Die Dörfer hier wurden im Stiel holländischer Baukunst errichtet. Backsteinhäuser mit Lisenen, sowie typischen weißen Fensterrahmen und Hauseingängen begleiteten die Straßen. Es war hier anders als im übrigen Land. Holland „kann man schon riechen“, wie wir früher sagten und die Dachrinnen der Gebäude hingen so tief über den Traufen, „dass man aus ihnen trinken konnte“.

Hinter Vreden rollte mein Fahrzeug zum Ort Zwillbrock, mit seinem großen Natur-schutzgebiet, dem Zwillbrocker Venn.

Venn ist die hier übliche Bezeichnung für eine „morastige Niederung“. In der Eifel, nach Belgien hin, gibt es das Hohe Venn, dass schon der Heidedichter Hermann Löns in seinen Erzählungen beschrieb und das auch heute für seinen Reichtum an besonderen Pflanzen und Tieren berühmt ist.
Wie alle Gebiete dieser Art, ist hier ein Stück bedrohter konservierter Natur zu erleben.
Mich zog aber nicht die Landschaft hierher, sondern eine Vogelart, die niemand im Münsterland erwartet.
Das Zwillbrocker Venn ist das nördlichste Brutgebiet der Flamingos in Mitteleuropa.
„Was Flamingos in Deutschland? – Das kann doch nicht sein“ mag so mancher denken und so ging es auch mir.
Seit 40 Jahren treten hier diese großen Vögel mit dem Hals eines Fragezeichens, dem rot-schwarz-weißen Gefieder, den riesigen Ständern und dem eigenartigen Schnabel auf. Anfangs waren es Chile-Flamingos, Gefangenschafts-Flüchtlinge, die sich hier ansiedelten.  Auch Kuba-Flamingos gesellten sich dazu und der Europäische Flamingo, wahrscheinlich aus der Carmargue in Frankreich, ergänzte die Kolonie. Dazu muss man wissen, dass die Tagesflugleistung eines Flamingos fünfhundert Kilometer betragen kann. Die Vögel haben sich vermischt und sind untereinander auch fortpflanzungsfähig. Nahe des Parkplatzes befindet sich die erste von zwei Beobachtungshütten für die täglichen Besucher. Bepackt mit einem Stativ, meiner Kamera und einem Objektiv für Aufnahmen der in ca. dreihundert Meter vor mir stehenden Vögel, betrat ich vorsichtig diese riesige Kanzel
Ich war in der Frühe der erste und einzige Besucher und hatte somit großes Glück.
Vor mir lag ein breiter Schilfgürtel. Ein gewaltiger alter Torfstich, in dessen Mitte sich eine große Insel befindet. Sie ist der Brutplatz von ca. zweitausend Lachmöven, vielen Schwarzkopfmöven, der Flamingos, Brand-, Nonnen-, Grau- und Nilgänse, Löffel-, Stock-, Krick- und Knäckenten, sowie vieler anderer Wasservögel. Das Geschrei der Lachmöven war ohrenbetäubend. Wenn man weiß, dass die Zahl der brütenden Möven nur noch 10% der ursprünglichen  Population ausmacht, kann man sich vorstellen, welch grandioses Bild sich den Besuchern noch vor wenigen Jahren, optisch und akustisch, bot.

Schnell hatte ich meine Kamera aufgebaut. Die Brutkolonie der Flamingos befand sich ca. 300 Meter vor mir. Ihre großen Bewohner erwachten gerade auf ihren Nestern, den eigenartigen Kegeln aus Schlamm. Wie in jeder großen Familie begann der Tag nicht nur mit Begrüßungen, sondern auch mit handfesten Streitereien. Dabei wurde das Gefieder gesträubt und mit langem Hals der Nachbar auf Distanz gehalten.
Die nicht brütenden Vögel standen vor der Kolonie im seichten Wasser oder sie schritten würdevoll, mit unter der Wasseroberfläche gehaltenem Kopf, langsam hin und her. Sie seihten mit ihren eigenartigen Schnäbeln Pflanzen, Plankton und kleine Krebse aus dem Wasser, das durch den Kot der Lachmöven gut gedüngt wird. Und das ist wohl der Grund dafür, dass diese Vögel sich hier angesiedelt haben. Hier gibt es genug Futter für sie und ihre Jungvögel und dieses Futter führt nicht, wie angenommen, zum Verblassen ihres prächtigen Gefieders.
Im Jahre 1995 wurden die ersten Küken beringt. Seitdem gelten die Flamingos als einheimisch. Ihre wirkliche Farbenpracht zeigen die Vögel erst im Flug. Die Flügeloberseiten erstrahlen in einem satten Rot und werden von schwarzen Schwungfedern besäumt. Sie liegen für gewöhnlich unter den langen weißen Deckfedern des Rückens und lassen diese Federn in einem rosa Farbton erscheinen.
Plötzlich schritten zwei der Vögel, mit rhythmischen Bewegungen, im Flachwasser nebeneinander her. Ihre Köpfe wurden mit den großen Schnäbeln seitlich an die Hälse gelegt. Mit synchronen Bewegungen zeigten sie ihre enge Verbundenheit.
„Mensch, die balzen ja“, schoss es mir durch den Kopf. Und schon ging es los. Die Flamingos paarten sich vor meinen Augen. Dabei sprühten ihre Farben wie ein Feuerwerk. Der Motor meiner Kamera lief heiß. – Das nennt man Dummenglück.
Fünf Kuckucke flogen, aus dem anliegenden Heidegebiet kommend, rufend über das vor mir liegende Schilfgebiet. So viele Exemplare dieses Vogels hatte ich in einer Gruppe  bislang noch nie gesehen.

Plötzlich erscholl aus dem Himmel ein großes Knarren. Wie eine rostige Türangel, ähnlich dem Schnarren eines auffliegenden Silberreihers, erklang es von oben. Ein Blick durchs Fenster zeigte mir einen Flamingo, der mit diesem Schnarren in zweihundert Metern Höhe über die Hütte hinwegstrich. Der Ruf hatte jedenfalls nichts von der Eleganz dieser großen Vögel. Auch das eigenartige Flugbild zeigte wenig Harmonie. Runder Körper, kurze Dreiecksflügel, ein unendlich langer Hals und ebenso lange Ständer. Das Flugbild ist jedenfalls sehr gewöhnungsbedürftig.
Die Stiegen der Kanzel knarrten und die ersten Besucher erschienen auf der Aussichtsplattform. Jetzt wurde es Zeit, sich zu verabschieden. Schwatzende Besucher lassen ein „Naturgefühl“ nun mal nicht aufkommen.
Die Flamingos erscheinen im Februar eines jeden Jahres und bleiben bis zum Ende des Sommers. Dann machen sie sich auf den Weg in die niederländischen Schutzgebiete, wie Oostvaardersplassen, dem Ijsselmeer oder ins Rhein-Maas-Delta, da deren Gewässer auch im Winter nicht zufrieren.  
Füchse und andere Prädatoren haben in der Vergangenheit zu schweren Störungen im Brutverhalten der Vögel geführt. Infolge starken Wassermangels gelangten diese Tiere auf die Brutinsel und damit in ihr Schlaraffenland. Die Flamingos fanden das nicht lustig und gaben ihre Bruten auf.
Daher hat die Biologische Station Zwillbrock e. V., die das Gebiet betreut,  einen drei Meter tiefen und zehn Meter breiten Graben um die Insel herum ausbaggern lassen. Dieser Graben sollte immer Wasser führen und damit Prädatoren von der Brutinsel fernhalten.
Trotz dieser Maßnahme sank der Wasserspiegel in einem Jahre derart, dass man zusätzlich einen Schutzzaun im Flachwasserbereich errichteten musste.  Kameras beobachten die Vögel nunmehr Tag und Nacht. In diesem Jahre nisten dort zehn Paare der Flamingos. Auf der Insel kann man während dieser Zeit zwischen 50 und 60 Flamingos beobachten.
Neben den Flamingos überraschten mich am meisten die vielen Weißwangengänse, die hier auch brüten. Die Wintergäste aus Grönland, aber auch aus Sibirien, fanden dieses Gebiet wohl so anziehend, dass sie den weiten Weg in ihre angestammte Heimat scheuten und gleich hier verblieben. Ich sah jedenfalls einen Flug mit ca. 40 Nonnengänsen (Weißwangengänsen) und drei Gänsepaare mit Gösseln.

Über das Schutzgebiet mit seinen seltenen Vogelarten und über die Bio-Station Zwillbrock e.V., gäbe es noch viel zu berichten. Wer sich dafür interessiert, dem sei die Hilfe des Internets empfohlen.
Unter: Biologische Station Zwillbrock e. V.
findet man die Antwort auf viele Fragen rund um den Naturschutz dieses Gebietes.

Im kommenden Jahre werde ich Ende Februar die Flamingos noch einmal besuchen, um die Gruppenbalz der Vögel zu erleben und zu fotografieren.

Quellen: Internetseite der Biologischen Station Zwillbrock e. V.