Üfter Mark: Beobachtungshütte in Pandemiezeiten

Vor der großen Beobachtungshütte quietschen Bremsen und scheppern die E-Bikes. Unmittelbar darauf erhebt sich ein Geschnatter auf Plattdeutsch, das das Herz eines jeden stillen Beobachters in der Hütte jubiliert. Und dann kommt eine Gänseschar gackernd in den Ort der Ruhe, der Entschleunigung und der Wildbeobachtung.

Gepolter hahnenfiedriger Damen

Laut wird gerufen: „Da stehen ja die Rehe! – Birgit guck mal dort!“ „Wie backt Else eigentlich ihren Apfelkuchen, kennst Du das Rezept?“ „Sag mal, was machen eigentlich Deine Enkelkinder?“ „ Bekommt Hannes noch Herztabletten?“ „ Wie wird dein Mann mit seinem Zucker fertig?
In „Null Komma Nix“ wird der stille Naturliebhaber lautstark über alle Wehwehchen  der E-Bikerinnen informiert. Und erst, wenn einem der Kragen platzt und man die schnatternde Schar bittet, ihre Gespräche vor der Hütte zu führen, kehrt unter  nicht zu überhörenden Protest Ruhe ein.
Ja, Leute die sich nie im Wald blicken ließen, haben sich in Zeiten der Pandemie ein E-Bike zugelegt. Jetzt werden sie sportlich, jetzt schinden sie Kilometer und  jetzt genießen sie in gewaltigen Rudeln die frische Luft der Üfter Mark.
Aber, nicht nur die Damenwelt stürzt sich kopfüber in die Natur, die Männer machen es ebenso. – Rentner lassen es sich richtig gut gehen und da auch Sie sich ebenfalls im Rudel am wohlsten fühlen, werden Flaschen mit reichlich geistiger Nahrung in die Fahrradtaschen gesteckt, eine Marschverpflegung eingepackt und sich währen der Fahrt schreiend von Rad zu Rad verständigt. Ja, es ist eine Lust, heute Rentner zu sein.
Mountainbiker(innen) dreschen mit Reifen, die an Motorradräder erinnern, quer durch den Wald. Auch sie genießen ihr Freiheitsgefühl auf Kosten anderer, auf Kosten der Natur.

Seine Rechte kennt man, seine Pflichten kaum

Und da sind noch die Jogger. Prustend und schwitzend keuchen sie über die Waldwege,
dehnen imposant ihre Muskeln, machen Liegestütze, das man im Kopf regelrecht albern wird und freuen sich schon hier im Wald auf die Flasche Bier zu Hause.

Hundeführer lassen Ihren besten Freunden freien Lauf, damit sie sich beim Anblick eines Rudels Rotwild einmal so richtig austoben können und Pilzsucher füllen ihre Plastiktüten, hier in diesem Naturschutzgebiet, mit vielen Schwammerln. Selbst mitten im Sommer wird in Hütte und Wald geraucht. Wenn man in der Beobachtungshütte sitzt, sieht man das Schild mit dem „Rauchen verboten“ auf der südlichen Hüttenwand ja nicht  und wenn man das Schild nicht sieht, dann ist das Rauchen in Wald und Hütte doch wohl erlaubt.

Manchmal kreuzen auch äußerst seriösen Waldbesucher in der Wildbeobachtungshütte auf. Aus den Packtaschen ihrer Fahrräder tischen sie eine Flasche Rotwein, eine kleine weiße Tischdecke, Rotweingläser, sowie ein Baguette auf, schmücken damit eine Sitzbank und diskutieren über Gott und die Welt. Die Natur vor der Tür interessiert sie überhaupt nicht.

Die Naturliebhaber

Ja, und dann sind da noch die Naturliebhaber, die offensichtlich weder lesen noch schreiben können. Mit hochgehaltenem Smartphone stiefeln sie quer durch die Botanik auf ein Rudel Rotwild zu, das in fünfhundert Metern Entfernung ruhig äst.  Das tolle Erlebnis soll im Film festgehalten werden. Sie wundern sich, wenn das Rudel den Spaß nicht versteht und flüchtet. Sie wundern sich, wenn der Revierleiter blitzschnell vor Ort ist, sie zurechtweist und eine Verwarnung ausspricht.

Revierleiter und Wildhüter

Der Revierleiter und zwei ehrenamtliche Wildhüter helfen der Natur, einigermaßen friedlich und so weit wie möglich ungestört durch die Pandemie zu kommen. Jährlich sechshundert bis achthundert unentgeltliche und achtzig bis einhundert entgeltliche Verwarnungen sprechen für sich und geben Aufschluss über die Rücksichtlosigkeit der Waldbesucher.
Viele E-Biker haben jetzt sicherlich wieder die Möglichkeit „Auf Schalke“ zu gehen und bleiben dem Wald fern. Aber die größere Zahl der E-Biker und andere Naturnutzer werden bleiben, denn ein Urlaub zu Hause macht schließlich auch Spaß. Das haben sie in der Pandemie gelernt. Solange sie sich an die Regeln halten, Wege nutzen, keine Pilze sammeln, die Glimmstengel zu Hause lassen, Hunde anleinen und den Schallpegel im Wald niedrig halten, kann die Natur mit ihnen im Einklang leben und existieren. Sonst ist es bald um den Naturgenuss geschehen.

Draußen, vor der Hütte macht der Platzhirsch gerade einigen Beihirschen Beine. Sein tiefer Bass schallt durch die Abendluft. Hoffen wir, dass es noch lange so bleibt.

Gerd Tersluisen (Hegering Gladbeck)