In den Neunziger Jahren des letzten Jahrhunderts konnte ich Beobachtungen im heimischen Rehwildrevier machen, die ich hier einmal wiedergeben möchte.
Wintersprünge
Im zeitigen Frühjahr pirschte ich vorsichtig an eine lange Weide heran, die an ihren zwei Längsseiten von je einem Wäldchen, wir sagen hier im Münsterland von einem „Busch“, begrenzt wird. Im Süd-Westen wird die Stirnseite von einer stark befahrenen Straße durchschnitten, im Nord-Osten von einem bewachsenen Wall abgeschlossen. Dort stößt die vierhundert Meter lange Wiese an eine sehr große Weidefläche.
Die Weide war in jedem Frühjahr immer wieder der Treffpunkt des gesamten Rehwild-bestandes der näheren Umgebung. Wintersprünge, nein „Winterrudel“, bis zu einer Kopfstärke von 28 Stück, waren hier keine Seltenheit. Dabei wurde die Weide im Winter und die kleinere Wiese im Frühjahr vom Wild genutzt. Bei all meinen Beobachtungen hatte ich immer den Eindruck, dass im Winter das Sicherheitsbedürfnis des Rehwildes einen besonders hohen Stellenwert hatte. Das Wild richtete sich beim Widerkauen inmitten des Feldes immer kreisförmig aus, sodass es alle Himmelsrichtungen unter Sichtkontrolle hatte. Ein Feind hatte keine Chance, sich dem „Rudel“ unbemerkt zu nähern.
Meiner Ansicht nach war ein anderer Faktor ebenfalls sehr wichtig. Das männliche Rehwild fand sich hier ein, äste friedlich nebeneinander und lernte sich dabei genau kennen. Die Böcke konnten die Kräfte ihrer Mitstreiter einschätzen und respektieren, um ernsthafte Kämpfe in Zukunft zu vermeiden.
Grenzkämpfe
Die lange Wiese wurde durch zwei Stacheldrahtzäune gedrittelt. Einer dieser Zäune markierte die Einstandsgrenze zweier gleichalter Böcke, die sich hier oft trafen, wie verrückt plätzten, an den Pfählen markierten und sich selbst im hohen Alter noch bekämpften. Der Spruch „alte Böcke kämpfen nicht“ traf für sie nicht zu. Ihre Kämpfe dauerten aber immer nur wenige Minuten, dann gingen die Streithähne im Rückwärtsgang, wieder plätzend und mit dem Gehörn in die Wiese schlagend, auseinander.
Territorialverhalten eines Platzbockes
An dieser Wiese traf ich im Frühjahr auf einen Sprung Rehwild, unter denen sich zwei dreijährige Böcke mit soeben gefegten Sechsergehörn befanden. Die Gehörne hatten lange, nadelspitze Enden und waren noch elfenbeinfarben. Einer dieser Böcke führte sich recht unwirsch auf, schlug immer wieder mit seinem Gehörn in die Grasnarbe und plätzte hin und wieder. Plötzlich erschien der Platzbock am ersten Stacheldrahtzaun, der Grenze seines Einstandes. Er zog in ruhigen und gemessenen Schritten auf den jungen Wilden zu. Der Platzbock war älter als fünf Jahre, besaß aber noch ein Bastgehörn. Als er zwanzig Meter vom dreijährigen Böckchen entfernt war, legte der junge Kraftprotz den Rückwärtsgang ein und wich, immer wieder sein Gehörn in die Grasnarbe schlagend, dem Platzbock aus.
Es sah so aus, als schiebe der Hausherr diesen Jüngling rückwärts vor sich her. Der alte Bock änderte dabei seine Geschwindigkeit in keiner Weise, auch machte er keine Ausfälle, um dem jungen Bock flinke Läufe zu machen. Nach ca. fünfzig Metern drehte der Dreijährige plötzlich ab und verschwand über den Wall hinweg. Dort flüchtete er durch die große Weide.
Der Herr des Einstandes machte jedoch kehrt und schritt, mit gleicher Ruhe wie vorher, an allen Stücken vorbei. Er ließ den zweiten dreijährigen Bock links liegen und verschwand wieder in einem seiner Betten.



Dieses Erlebnis hat mir drei Dinge gezeigt
1. Der Zeitpunkt des Fegens „alt vor jung“ stimmt nur in wenigen Fällen.
Ausnahmen sind immer möglich.
2. Die Kampffähigkeit eines Gehörnes spielt bei Rehwild keine große
Rolle. Der dreijährige Bock besaß ein kampffähiges Gehörn. Er griff
den alten Bock mit seinem kampfuntaugliche Bastgehörn nicht
an. Die Macht des Territorialbockes wird, wenn er älter ist, von allen Böcken
respektiert.
3. Der alte Bock legt seine Betten so, dass er die Äsungsflächen in
seinem Revier stets im Auge, pardon in seinen Lichtern, hat.
So hat er sein Territorium immer unter Kontrolle und kann seinen
Mitstreitern im wahren Sinne des Wortes die Stirn bieten.
Wo liegen die Betten der Platzböcke?
Böcke legen ihre Betten an den Rand einer Äsungsfläche. Dabei achten sie auf gute Sichtdeckung und auf die vorherrschende Windrichtung. Das kann hinter einem Baumstamm oder in einem Brombeerverhau sein. Ein Brennnessel-Schlag oder ein Distel-Horst spielt hier ebenfalls eine Rolle. Für jede Windrichtung beziehen sie ein anderes Bett. So haben sie stets einen großen Teil ihres Territoriums unter Kontrolle. Diese einmal geschaffenen Betten nutzen sie über Jahre hinweg.
Hochsitze an Äsungsflächen
Das die Lage der Betten alter Böcke eine wichtige Rolle spielt, sahen wir an dieser Stelle und an anderen Stellen des Revieres immer wieder. Von den dort stehenden Kanzeln konnten lange Zeit keine sehr alten Böcke erlegt werden. Das ging sogar so weit, dass wirklich alte Böcke verhungerten oder im hohen Alter durch uns gefunden und abgefangen werden mussten.
Die Kanzeln an den Äsungsflächen stehen am Bestandsrand, so dass ein ruhender Platzbock das Besteigen der Ansitzeinrichtungen durch den Jäger miterleben kann. Er zieht daraus dann die für sein Überleben wichtigen Schlüsse.
Wer hier jagdlichen Erfolg haben will, muss laut sprechend und in Begleitung eines zweiten Jägers die Kanzel beziehen. Während er es sich oben bequem macht, verlässt die zweite Person, wieder laut sprechend, die Kanzel. Sie macht richtig Lärm, bis sie sich weit genug entfernt hat. Der Bock kann nicht zählen. Für ihn ist die Gefahr gekommen, jetzt aber wieder verschwunden.
Nach einer halben Stunde hat sich die Lage beruhigt und der Ansitzjäger kann auf sein Glück hoffen.
Die hier aufgezeigten Beobachtungen beziehen sich auf ein Feldrevier mit eingesprengten Büschen (Kleinen Wäldchen). In Waldrevieren kann sich die Situation völlig anders darstellen.
Aber auch von Waldrevieren ist bekannt, dass man alten Böcken zufällig bei der Pirsch begegnet, sie aber kaum ersitzen kann.
Gerd Tersluisen
(Hegering Gladbeck)