Mit geschlossenen Augen ist’s, als ob ein stetiger Wellenschlag ans Ohr dringt – sehr beruhigend. Ein würziger, leicht modriger Geruch steigt in die Nase, was das sein mag . . . Zu Füßen ein Rumpeln: Dackel Quintus fängt Fliegen. Und horch, was ist das? Gerd Tersluisen macht das „Lachen des Grünspechts“ aus.

Dem Rehwild auf der Spur

Beim Blick nach oben entpuppt sich das, was eben wie leise Brandung klang, als Rauschen der Blätter ringsum. Ihr Grasgrün hebt sich prächtig vor dem lichtblauen Himmel – ein Bild für Maler. „Jagen ist, mit allen Sinnen beobachten“, sagt Tersluisen. Und genau das tut er wieder mal an diesem Abend. Der 72-Jährige ist Obmann für Öffentlichkeitsarbeit beim Hegering Gladbeck, kein Künstler mit Pinsel und Farbe. Und doch braucht er einen Blick fürs Motiv: Rehwild.

Lockrufe aus der Blattpfeife

Tersluisen bezieht mit seinem vierbeinigen Partner Posten in einer mächtigen Eiche. Der Jäger schnappt sich den sechsjährigen Teckel und klettert mit ihm empor. Quintus lässt’s gelassen geschehen – das kennt er schon. Wie in einem riesigen Starenkasten hocken Herrchen und Hund im hölzernen Ausguck. Tersluisen späht durch die Luken, setzt immer wieder das Fernglas an. Hier mitten in Gladbeck, wo sich Fuchs und Hase gute Nacht sagen, feiern Ricke und Bock seit Juli „Hochzeit“. Wenn sie denn Lust haben. Dann zeigen sie sich auch den heimlichen Beobachtern.

Die alten Böcke sind müde

Doch ungeduldige Naturen dürfen das nicht sein. Die Zeit verstreicht, es tut sich nichts auf der Lichtung. Tersluisen will den tierischen „Damen“, wie er sie galant nennt, und ihren Verehrern auf die Sprünge helfen. Er zückt eine Blattpfeife aus Horn, spitzt die Lippen und pfeift. Ein Fiepen durchdringt den Wald. In der Rehsprache heißt das: „Ich bin hier!“

Dann warten, ob der Ruf in die Lauscher eines Rehs dringt. Irgendwo knackt es – „da fallen Eicheln runter“; ein Motorflugzeug zieht brummend seine Runden, Schmetterlinge gaukeln in der Wiese, der Sonnenuntergang in prächtigem Orangerot lässt feine Spinnweben und Bienen-Flügelchen glitzern. Nur: Ein Reh, das wild auf einen Bock ist, kommt Tersluisen nicht vor die Gläser. Erklärung: Die Ricken hatten längst ihren Spaß. „Die alten Böcke sind müde, vollkommen kaputt“, so der Waidmann. Rekord-Temperaturen lassen auch den stärksten gehörnten Kerl nicht kalt.

Fuchs traut dem Braten nicht

Dennoch versucht es Tersluisen noch einmal, pfeift mehrfach ein „Ich will einen Bock!“ hinaus. Um die Wartezeit zu nutzen, schickt er einen jämmerlichen Klagelaut in den Wald: „Ein sterbendes Kaninchen, um den Fuchs anzulocken.“ Doch weder Reineke noch ein Reh lassen sich blicken. Tersluisen setzt den Eifersuchtsruf ab. Übersetzung: „Hier ist ein anderer, der der Dame zum Glück verhilft.“ Und dann sind die ersten Tiere da: eine Ricke samt Kitz am Waldrand! Eine weitere Geiß wagt sich aus der Deckung. In ihrer Nähe leuchtet der weiße Latz eines Fuchses mit dunkler Lunte (Schwanz). Neugierig nähert er sich der Quelle des Lockrufs, wagt sich etwas näher. Aber der schlaue Fuchs traut dem Braten nicht.

Rehbock lässt sich blicken

Und dann ist er da: ein Rehbock! Seine Stangen leuchten sogar aus der Entfernung strahlend weiß. Elegant und vorsichtig spaziert er zu einer Ricke. Keiner der beiden macht Annäherungsversuche, Seit an Seit äsen sie. Welch ein Anblick! Irgendwann verschwinden sie wieder im Wald – aus den Augen des glücklichen Beobachters . . .

Quelle: WAZ Gladbeck – Svenja Suda | Fotos: Oliver Mengedoht

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