Tödliche Verletzung durch einen Forkelstich

Kranker Hirsch mit heraushängendem kleinen Gescheide

Endlich war es wieder so weit. Die Rotwildbrunft, das größte Spektakel der heimischen Wildbahn,  stand vor der Tür.

Wenn man das Glück hat, am Rande eines Rotwildkernrevieres zu wohnen und dort die Brunft täglich mit der Kamera genießen zu können, lebt man im jagdlichen Paradies. – Mir jedenfalls geht es so.
Herz, was willst du noch mehr?

Am 27.09.2018, um 18.59 Uhr, saß ich gut getarnt unter einer Traubenkirsche. Vor mir lag ein Brunftplatz mit der ungefähren Größe  von 400 x 400 m. Der Wind kam aus West und stand daher für mein Vorhaben gut. Aus dem Kiefernaltholz links von mir erschien plötzlich ein rufender Hirsch und zog auf einen antwortenden Konkurrenten in einer Kiefernansamung zu. Dieser Hirsch war für mich nicht sichtbar. Doch schon erschienen sie. In einer Entfernung von etwa 300 Metern, schritten beide Hirsche, gewaltig röhrend, im Parallelgang nebeneinander her. Der eine Hirsch war ein mir unbekannter mittelalter Hirsch. Sein Gegner schien soeben in die Klasse der alten Hirsche gewachsen zu sein. Ihn kannte ich nunmehr seit drei Jahren.

Hirsche beim Parallelgang

Hirsche beim Parallelgang

All die Jahre trug dieser Hirsch ein fast identisches Geweih

Er war stets Kronenzwölfer mit einem mäßigen Wolfsspross und einer sehr geringen Gabel in den Kronen beider Stangen. Daran und an der Auslage des Geweihes, ließ er sich eindeutig wiedererkennen. Heute trug er in einer Krone drei statt zwei schwache Enden.
Dieser Fürst des Waldes fürchtete weder Tod noch Teufel und so erlebte ich, wie er mehrfach die kapitalsten Hirsche des Revieres zum Tanz auf dem Brunftplatz aufforderte. Stets nutzte er die Vorteile einer Hanglage zu seinen Gunsten. Immer stand er in solch einem Falle über seinem Gegner und schob ihn vor sich her. Sollte er einmal ausnahmsweise unterhalb seines Gegners stehen, gelang es ihm sofort wieder, sich aus dieser ungünstigen Situation zu befreien. Ja, der Hirsch konnte kämpfen. Er schien intelligenter als seine wesentlich stärkeren Gegner zu sein und so konnte er bis heute seine Gene auch sicherlich erfolgreich weitergeben.
Die Lauscher zurückgelegt, die Brunftruten präsentierend und ihre Häupter ständig hin und her schwenkend, so schritten beide Hirsche, aus der Ansamung kommend, auf das Kiefernaltholz zu. Meine Kamera zeigte, was in ihr steckte. Aufnahme um Aufnahme füllte den Chip.
Doch nun passierte etwas Unvorhergesehenes. Es kam nicht zum Kampf, sondern der alte Hirsch zog verhalten rufend, an seinem Gegner vorbei und wurde vom Altholz verschluckt. Er gab auf.
Der junge Hirsch war so verdutzt, dass er zuerst eine Rufpause einlegte, anschließend aber seinen Siegesruf immer und immer wieder in die Abendluft schmetterte.
Bis dahin hatte ich das Geschehen unter größter Anspannung verfolgt. Als Jäger mit der Kamera nutzt man jede sich bietende Chance zu einer guten Bildkomposition, ohne dabei die Hirsche genau anzusprechen. Schließlich will man sie ja nicht erlegen.

Kranker Hirsch mit heraushängendem kleinen Gescheide

Kranker Hirsch mit heraushängendem kleinen Gescheide

Erst am PC betrachtete ich das Geschehen noch einmal

Dabei fiel mir ein großes Blatt auf, das unter dem Brunftfleck des alten Hirsches hing. Dieses Blatt fand ich auf vier Aufnahmen. Es fiel offensichtlich nicht ab.

Zwei Tage später, es war der 29.09. 2018, saß ich in der Frühe an gleicher Stelle. Ein starkes
Brunftrudel wechselte über die Freifläche in eine riesige Dickung. Ihm folgte eine Prozession der Beihirsche. Zwei mittelalte Hirsche und fünf Junghirsche zogen hinter dem Rudel her.  Und das im Licht der aufgehenden Sonne. – Was für ein Anblick, was für ein Erlebnis. –
Plötzlich meldete auf gleicher Fährte ein Hirsch im Kiefernaltholz. Hinter einem Schmaltier zog der rufende Hirsch aus dem Schatten des Altholzes in die strahlende Frühsonne. „Mensch, das ist ja mein Freund, mit den mickerigen Kronen!“, schoss es durch meinen Kopf. Gleich ging mein Blick zu seinem Brunftfleck. Da traf mich der Schlag. Das vermeintliche Blatt war offensichtlich ein Stück Decke. Aus deren Öffnung quoll nun ein Teil des kleinen Gescheides. Es hing als faustgroßer Ball unter dem Brunftfleck.
Nun fotografierte ich den bedauernswerten Hirsch. Da ich nur mit der Kamera bewaffnet war, konnte ich ihn nicht von seinen Leiden erlösen. Litt er eigentlich? Mir kamen da Zweifel. Er schrie und folgte dabei immer noch seiner Liebsten.  Der Fortpflanzungstrieb ist offensichtlich ungeheuer groß und  bestimmend für ihn, bis in den Tod.
Kurz vor der Dickung verließ er sein Schmaltier und zog alleine in seinen Tageseinstand.

Sofort brach ich meinen Ansitz ab und informierte Herrn B., den zuständigen Revierleiter.

Bei der Betrachtung meiner Aufnahmen sagte er mir, dass sei eine Forkel-Verletzung, die die Hirsche in der Regel nur zwei bis drei Tage  überlebten. Sofort wurden einige öffentliche Wege gesperrt und auf den Hirsch gepasst. Zwei Tage Ansitzjagd brachten keinen Erfolg. Dann jedoch wurde eine weitere Bejagung wegen völliger Aussichtslosigkeit aufgegeben. Der Recke blieb verschwunden. Die Aufnahme vom 29.09.2018 waren die letzten des lebenden Hirsches.

Fünf Tage später inspizierte der Revierleiter die große Beobachtungshütte am Hauptbrunftplatz.
Auf dem 550 m entfernten Brunftplatz trieb ein Hirsch sein Kahlwild. Mit seinem Spektiv erkannte Herr B. einwandfrei den Kranken. Der tat aber, als würde ihn seine Verletzung nicht behindern und brunftete putzmunter vor der Optik des Försters. An diesem Abend gelang es nicht, näher an den Hirsch heranzukommen und ihm einen Fangschuss anzutragen.
Ganz anders am nächsten Tage. Der Hirsch hatte sich auf dem Brunftplatz niedergetan. Ein Beihirsch plänkelte mit dem liegenden Hirsch. Der war jedoch am Ende seiner Fährte angekommen. Er wurde nicht mehr hoch. Schnell pirschte Der Revierrleiter den sitzenden Hirsch an und gab ihm den erlösenden Fangschuss. Beim Aufbrechen floss nur Schweiß und Wasser aus der Bauchdecke. Sie selbst war voller Entzündungen. Eine Forkel-Verletzung konnte einwandfrei nachgewiesen werden.
Der Geforkelte muss ungeheure Schmerzen ausgestanden haben. Trotzdem brunftete er bis zu seiner letzten Stunde.

So endete das Leben eines großen Kämpfers, eines II B –Hirsches vom 10. Kopf, dessen Vermehrungstrieb ihn erst in der letzten Stunde seines Lebens verließ.

Gerd Tersluisen (Hegering Gladbeck)

So erschienen in Heft 4/2018 der Zeitschrift „Der Wildhüter“.