Tiroler Almwirtschaft: Der Wolf kommt, die Artenvielfalt geht

Von Sabine Leopold, agrarheute

Massive Wolfsübergriffe haben Tiroler Schafhalter dazu gebracht, ihre Tiere von den Almen abzutreiben. Sie wollen und können die Verluste nicht länger ertragen. Schaden nimmt dabei auch der Naturschutz.

Jetzt geschieht also das, wovor in den Alpenregionen lange gewarnt wurde: Tiroler Schafhalter holen ihre Tiere lange vor Sommerende von den Almen. Denn inzwischen siedeln sich auch in Österreich immer mehr Wölfe an, vor denen die Weideviehhalter ihre Tiere nicht ausreichend schützen können.

Rund 30 tote Schafe in nur einer Nacht

Auf der Rotwandalm in den Kitzbüheler Alpen hatten ein oder mehrere Wölfe (die DNA-Ergebnisse stehen noch aus) in der Nacht zum 3. Juli 2021 rund 30 Schafe gerissen oder so schwer verletzt, dass die Tiere erlöst werden mussten. Weitere fünf werden bis heute vermisst (Stand: 8. Juli).

Den Schafhaltern blieb nichts anderes übrig, als die erst kurz zuvor aufgetriebenen Tiere unverzüglich wieder talwärts zu bringen. Denn wie soll man in einer unwegsamen Region wie der Rotwandalm Schafe vor dem Wolf schützen?

Einfach Zäune bauen?

Gute Ratschläge zu diesem Thema gibt es allerdings genug. Sie kommen vor allem aus Gegenden ohne Wölfe und von Menschen ohne Weidetiere. Und sie klingen immer gleich: Gescheite Zäune müsse man halt bauen, heißt es unter jeder Facebook-Meldung zu Wolfsübergriffen. Aber dazu seien die Weidetierhalter zu faul.

Peter Aschaber, einer der von den Rotwandalm-Rissen betroffenen Tiroler Schafzüchter, reagiert darauf nur noch wütend. „Die waren alle noch nie in den Bergen“, sagt er gegenüber agrarheute. „Selbst wenn diese Zäune Wölfe abhalten könnten: Wie soll man denn auf der Alm richtig zäunen, da wo es fast überall felsig und steil ist?“

Zwischen Überweidung und Verbuschung

Wie praxisfern und weltfremd die Forderung nach wolfssicheren Zäunen in Alpenregionen ist, beweisen – unfreiwillig – Aufnahmen aus dem umstrittenen Hannes-Jaenicke-Film zum Thema Wolfsschutz.

Dort kommt als Fürsprecher für den Wolf der Tiroler Wanderschäfer Thomas Schranz zu Wort. Er plädiert für Zaunbau und erklärt, durch Stromführung wehrten diese Zäune Wölfe sicher ab. Als Beweis dient eine Luftaufnahme, die die Einfriedung zeigt: Ein eingezäuntes Stück Alm, da, wo es halbwegs gerade und felsfrei ist.

Die Fläche innerhalb des Zauns ist gut abgefressen, fast schon überweidet. Außerhalb jedoch, da wo Schafe und Ziegen sonst hinkraxeln und die Vegetation kurz halten, wuchert es ungehemmt. Und was ein Wolf von einem 90-cm-Zaun an einem Steilhang hält, dürfte dem Wanderschäfer die Zukunft zeigen. Von oben in das abgegrenzte Territorium hineinhüpfen könnte auch ein Dackel. Für den Ausgang sorgen dann die panischen Schafe selber.

Almbewirtschaftung braucht Weidetiere

Aber ohne Weidetiere hätten wir Natur pur, eine Alpenlandschaft wie sie immer war – wollen wir das nicht?

Nein, das wollen wir nicht und gerade bei Naturfreunden sollte das zum Basiswissen gehören. Unsere Kulturlandschaft und die auf ihr gedeihende Biodiversität brauchen Pflege, sonst verdrängen dominante Arten alles um sich herum. Die Landschaft verbuscht.

Und gerade auf schwierigem Grund wie Almwiesen geht diese Vegetationpflege nun mal nicht ohne „geländegängige“ Weidetiere.

Herdenschutzhunde sind in Tourismusgebieten keine Lösung

Auch Herdenschutzhunde – die zweite gebetsmühlenartig vorgetragende Empfehlung in Internetforen und sozialen Medien – sind für touristisch genutzte Regionen keine Alternative.

Viehhalter in den Alpen haben schon genug Mühe, Wanderer aus ihren Mutterkuhherden herauszuhalten. Wie macht man diesen Tierfreunden klar, dass ein Schutzhund bei der Verteidigung seiner Herde keinen Unterschied zwischen einem Wolf und einem Familienhund – oder schlimmer: einem menschlichen Wandervogel – macht?

Wolf oder Artenvielfalt?

Wer also auch in zehn Jahren noch seinen umweltfreundlichen Urlaub beim Bergwandern in den Tiroler Alpen verbringen und sich an der Artenvielfalt der Almen erfreuen möchte, sollte den uneingeschränkten Schutzstatus für eine der sich am schnellsten vermehrenden Tierarten in unseren Breiten überdenken.

Von den idyllischen Selfie-Motiven mit Weidetieren ganz zu schweigen. Auf der Rotwandalm wird es in diesem Jahr wohl keine Schafe mehr geben, es sei denn, die österreichischen Behörden reagieren und erlauben schnelle und unkomplizierte Abschüsse der Wölfe, die sich in der Region auf Schafrisse spezialisiert haben – notfalls auch unter Inkaufnahme von Strafmaßnahmen der EU. Das jedenfalls ist die unmissverständliche Forderung der Züchter.

Die Bilder der Wolfsrisse sind schwer erträglich

„So kann es doch nicht weitergehen“, sagt Peter Aschaber. „Das Blutbad, das wir da vorgefunden haben, zerreißt einem das Herz. Der Angriff war wohl im Morgengrauen. Bis wir auf der Alm waren, lagen viele Tiere stundenlang unter unsagbaren Qualen noch lebend herum, bis sie ein Jäger endlich erlösen konnte.“ (Eine Auswahl der schwer zu ertragenden Bilder zeigt das Video unten, das Aschaber bei den Bergungsarbeiten gefilmt hat.)

Viele der insgesamt 20 Schafhalter aus Westendorf und Umgebung, die ihre Tiere auf der Rotwandalm hatten, züchten liebevoll seltene Rassen. Aschabers Schafe sind Walliser Schwarznasen, eine Rasse, die aufgrund ihres attraktiven Aussehens bei den Touristen in der Region besonders beliebt war. Aber als Wolfsfutter sind ihm seine Schafe zu schade.https://www.youtube-nocookie.com/embed/4PQOeLsYONo

Tiroler Bauern gehen auf die Straße

Der Riss auf der Rotwandalm war allerdings längst nicht der erste Fall. Wenige Wochen zuvor zum Beispiel hat es Schäfer auf der anderen Seite des Bergs erwischt. Insgesamt 200 Wolfsrisse wurden in dieser Saison österreichweit bereits erfasst. Deshalb machen die Tiroler Almviehhalter und auch zahlreiche Tourismusanbieter inzwischen mobil.

Am Samstag, noch bevor die Risse auf der Rotwandalm von zwei Wanderern entdeckt worden waren, demonstrierten in Innsbruck 3.000 Menschen für ein Wolfsmanagement, das diesen Namen verdient. Sie forderten einen Schutz der Kulturlandschaft durch Schutz der Weidewirtschaft vor dem Wolf.

Der Politiker Josef Hechenberger (Österreichische Volkspartei ÖVP) schrieb dazu auf Facebook: „Der geplante Dringlichkeitsantrag zum Umgang mit großen Beutegreifern muss so nachgebessert werden, dass Abschüsse endlich auch wirklich in der Praxis umsetzbar sind. […] Der Wolf wird schon seit 2018 in Europa als nicht mehr gefährdet eingestuft, bedroht aber gleichzeitig den Lebensraum dutzender ebenso geschützter Tier- und Pflanzenarten.“

Was, wenn sich die Wolfsbestände entwicklen wie in Deutschland?

Dabei beginnen die Probleme in unserem Nachbarland gerade erst, nach allem, was man aus hiesigen Erfahrungen sagen kann. Offiziell sind in Österreich im Jahr 2020 nur 40 Wölfe erfasst gewesen (Quelle: beutegreifer.at). Selbst mit einer hohen Dunkelziffer sind das bislang nicht viele. Aber in den kargen Alpenregionen sind Hausschafe nun einmal viel leichter zu erbeuten als Gämsen, Murmeltiere oder Steinböcke. 

Was also, wenn sich die österreichischen Wölfe ähnlich rasant ausbreiten wie die deutschen? Zumal auch ein Abwandern von hier nach Österreich mit zunehmendem Populationsdruck immer wahrscheinlicher wird, wir also vielleicht künftig unsere Wolfspolitik des unbegrenzten Wachstums quasi exportieren.

Peter Aschaber sagt, auf die dringlichen Notrufe der Tiroler Bauern bekomme man von Naturschützern und Politikern immer wieder die Antwort, in anderen Ländern gebe es doch auch keine Probleme: Italien, Frankreich, Schweden … Deutschland. Deutschen Weideviehhaltern dürfte dieser Spruch schmerzhaft bekannt vorkommen.