Irgendwie hatte ich mir diesen Vormittag frei gemacht, frei gemacht um auf Böcke im heimatlichen Revier anzusitzen. Vor allen Dingen ging es um einen abnormen etwa zehnjährigen Bock, auf dem Gelände eines alten Bauernhofs. Solch einen Bock hatte ich noch nie gesehen, geschweige denn fotografiert. Ich sah ihn zum ersten Mal beim Bestätigen des Rehwildes im März. Sein Anblick machte mich richtig heiß. Aus diesem Grunde begleitete mich heute meine Kameraausrüstung.

Gegen 8.00 Uhr saß ich mit meinem Teckel Quintus im ehemals fahrbaren Bodensitz am Rand einer Pferdeweide. Vor mir erstreckte sich eine Silograsfläche, die im Osten von einer großen Hecke, dem Haupteinstand des Rehwildes, begrenzt wurde. Die Hecke bedeckte einen vier Meter hohen Geländesprung. Ich baute Stativ und Kamera auf. Jetzt konnte nichts mehr schief gehen. Es fehlte nur der Hauptakteur. Quintus war auch sehr zufrieden. Die Pferde hatten in die Rückwand des Bodensitzes ein Loch geleckt, durch das er prima hindurchschauen konnte. Nieselregen fiel den ganzen Tag. Die Sicht war alles andere als optimal.
Nach einer knappen halben Stunde hob sich der Vorhang auf der vor mir liegenden Bühne und der Hauptdarsteller, auf dessen Erscheinen ich hoffte, stand plötzlich vor der Hecke. Dort äste er Brombeerlaub. Das Silagegras lag ihm offensichtlich schwer im Pansen.

Mit meinem langen Objektiv gelangen mir Großaufnahmen des alten Bockes ganz nach meinen Wünschen. Plötzlich erschien oberhalb der Abbruchkante ein weiterer Bock mit dünnem Hals, an dem Reste der Winterdecke rechtwinkelig abstanden. Es war ein geringer junger Sechser, der mit großen Lichtern meinen Bodensitz fixierte. Schnell wurden zwei Aufnahmen gemacht.

Von unten näherte sich nun gemessenen Schrittes der alte Bock, der dem Jüngling plötzlich auf vier Metern Entfernung gegenüber stand. Das entsetzte Gesicht des Böckchens, mit den groß aufgerissenen Lichtern, konnte ich auf dem Chip festhalten. Dann aber gab der Kleine Gas, sauste die Abbruchkante herunter und im großen Bogen durch die Pferdeweide. Ihm folgte der grau-rote Teufel, der Platzbock. Tief in der Pferdeweide verhoffte der Alte, plätzte und zog langsam auf meinen Bodensitz zu. Der Eindringling war in Richtung eines Wäldchens entkommen. Ich saß hinter der Kamera und fotografierte den abnormen Bock mit dem absonderlichen Gehörn. Er zog näher und zeigte sich dabei von allen Seiten. Ja, er verhielt sich wie ein Model. Der Bock hatte stark zurückgesetzt. Zwei Gabelstangen erreichten nur knapp die Höhe seiner Lauscher. Wie ein Schraubengewinde drehte sich ein flaches Perlengebilde um eine der Stangen. Sie gab dem Gehörn eine besondere Note.

Um mich herum war die Welt versunken. Ich dachte nur an diese einmalige Chance. Nun war er zwanzig Meter entfernt. Jetzt betrug die Entfernung 10 Meter. Und nunmehr war er fünf Meter entfernt. Es war mir nicht mehr möglich ihn zu fotografieren. Er war einfach zu nahe.

Was jetzt aber geschah, brachte mich aus der Fassung, ja es brachte mein Innenleben zur Explosion. Ich hatte die Welt um mich herum vergessen. Vergessen hatte ich auch meinen Etagenwolf, der plötzlich mit einem gewaltigen Wutgebelle durch das Loch der Rückwand sprang und dem rotgrauen Feldfreiherren an die Drossel wollte. Der fiel vor Schrecken fast auf den Rücken, sauste durch den Zaun in die Silograsplantage, riss plötzlich sechs weiter Stücke Rehwild mit und verschwand im nord-westlichen Zipfel der Hecke. Von dem ruhenden Rehwild hatte ich bis dahin nichts gesehen.
Quintus, der beste Teckel der Welt, hatte in dem hohen Gras keine Chance. Nachdem ich ihn rief, kam er im großen Bogen zurück. Als er die Richtung zur Hütte einschlug, fuhr vor seiner Nase auch noch Meister Lampe aus seiner Sasse, schlug Haken und brachte mein Krummbein völlig aus der Fassung.

„Diese verdammten Feiglinge! Wenn man meint, man hätte sie, sausen sie einfach fort. Dabei wollte ich sie doch nur ein klein wenig würgen!“ So wird es durch seine Philosophenstirn geschossen sein.
Mit tiefer Nase und lautgebend, folgte er der Spur des Hasen. Ich rief ihn ab. Er verhoffte, äugte zur Hütte  und kam zurück. Strafen konnte ich ihn nicht. Es war ja meine Schuld und nicht die des Teckels. Seine Jagdpassion hatte er lange genug gezügelt. Ein Bock auf fünf Meter Entfernung muss schließlich jeden wildgewordenen Handfeger zur Bestie machen. Ja, jetzt saßen wir gerade einmal eine Stunde. All meine Wünsche hatten sich erfüllt.

St. Hubertus sei Dank

Ich untersuchte das Hüttendach. Trotz meiner gewaltigen Explosion. Vor wenigen Minuten, war es noch unbeschädigt. Das Dach hat meinem Wutausbruch standgehalten. Was macht man mit solch einem angebrochenen Morgen? Hier hatte es kaum Zweck weiter sitzen zu bleiben. Mit Anblick war hier frühestens um 11.00 Uhr zur rechnen.

Kurz entschlossen fuhr ich zu einem benachbarten Hof.- Langsam rollte ich mit heruntergelassener Beifahrerscheibe an einer Kanzel vorbei und stoppte den Wagen auf der zugehörenden langen Wiese. Mit dem Glas leuchtete ich die grüne Fläche ab. Plötzlich stand eine „gewaltige Bache“ mit dem weißen Polo eines Pflegedienstes hinter mir, blinkte und begehrte freie Fahrt bis zum Hof. Was soll man da noch machen. Mit einer „Pflegebache“ ist nicht zu Spaßen. Der Hinterlauf der Hausbewohnerin musste gewickelt werden und das ging nun mal vor. Die Zeit des Pflegepersonales ist schließlich sehr beschränkt und teuer.

Ich fuhr bis zum Backhaus, drehte den Wagen und rollte gerade zurück, als die Frau des Hauses mir zurief: „Heinrich, unser Hausfasan ist wieder da!“ Dann verschwand sie, der Schwester sei Dank, wieder in ihrer Wohnstatt. Ohne Schwester wäre ich jetzt das Opfer eines langen Palavers geworden. Als ich am Haus vorbeifuhr und den langen Wiesenstreifen erreichte, glaubte ich zu träumen.

Eine Ricke stand 180 Meter entfernt vor dem Wald und zog auf mich zu. Ihr folgten eine weitere Ricke, ein Schmalreh und mein „Kamillenbock“ vom letzten Jahre.  – Den Namen erhielt der sechs Jahre alte Bock, nachdem ich ihn im letzten Jahre inmitten eines riesigen ungespritzten Kartoffelfeldes ablichten konnte. Von den Kartoffeln sah man nichts. Alles erstrahlte in der Farbe der Kamille. Es duftete damals unglaublich.

Der erneute Anblick warf mich um. Was war das für ein Bock. Ein ungerader Sechser mit außergewöhnlich hohen Stangen, deren Enden wie Elfenbein strahlten, zog hinter seinen Damen her und kam dann flüchtig auf mich zu. Als er die erste Ricke erreichte, war er nur noch 70 Meter entfernt, verhoffte und zog langsam in Richtung Waldkante. Der Motor meiner Kamera lief heiß. Aufnahme um Aufnahme verschwand im Kasten. Dann tat sich der ganze Verein nieder und wurde vom hohen Silagegras verschluckt. Ich musste tief durchatmen. Ich hatte, was ich mir wünschte.

Diana sei Dank!!! (Man kann ja nicht immer Hubertus in die Pflicht nehmen)

Alle guten Dinge sind drei, so sagte ich mir und fuhr auf einem benachbarten Blumenhof. Freund Philipp hatte mir gesagt, dass dort wahrscheinlich ein zweijähriger guter Sechser den vakanten Einstand übernommen hätte. Er hätte ihn aber noch nicht bestätigt. Ich meldete mich bei der Besitzerin des Blumenhofes an und bekam sofort die Möglichkeit, ihren Parkplatz als Anstizplatz zu nutzen. Ja, zufrieden richtete ich mich ein. Der Wagen stand so, dass ich die gesamte vor mir liegende Wiese mit dem Teleobjektiv beackern konnte. Kaum hatte ich es mir gemütlich gemacht, bemerkte ich ein Stück Rehwild, das in ca. 200 m Entfernung in eine Pferdeweide zog. Diese Weide wurde durch eine Hecke, einen Graben und einen Zaun mit Kopfweiden von der vor mir liegenden Wiese getrennt.

Schnell nahm ich das Stück in den Sucher der Kamera. – Was ich dort sah, konnte ich nicht glauben. Dieser Bock hatte es in sich. „Wenn der einmal das richtige Alter hat, wird der kapital“, schoss es mir durch den Kopf.
Nun begann das, was jeder Jäger auf dem Ansitz erlebt. Ich betete: „Bitte ziehe in meine Wiese. Ich will dich doch nur fotografieren!“ Offensichtlich erhörte er mein Gebet und glaubte mir. Zügig, immer wieder einige Hälmchen aufnehmend, näherte er sich dem Zaun. Drei Aufnahmen machte ich sicherheitshalber von dieser Situation. Ausgerechnet den Zeitpunkt, als er über den Graben setzte, verpasste ich. Plötzlich stand er an der Kante meiner Wiese und sicherte zum Hof. Klick! Klick! Und ich hatte ihn von vorn und seitlich aufgenommen.

Was war das nur für ein Bock. Eine starke Auslage zeigte sich von vorn. Gewaltige Vordersprossen und sehr gute Rücksprossen zeichneten seine Krone aus. Die Enden waren noch nicht poliert, das Gehörn tief braun gefärbt.
Diese Krone hätte einem fünfjährigen Bock zur Ehre gereicht.  Da er diesen Einstand soeben übernommen hat, wird er nicht älter als zwei oder drei Jahre sein. Nach der Figur und seinem Gesicht wäre er älter. Aber nein. Von der Seite betrachtet, zeigt sich doch noch eine junge Figur. Dem Hals fehlt noch die Masse, um zum Träger zu werden. Zwischen Widerrist und Hals befand sich noch ein Knick.

Jetzt stand der Waldfreiherr vor dem Stamm einer Kopfweide. Dort machte er sich besonders gut. Drei Schritte weiter, er plätzte, knickte mit den Vorderläufen ein und tat sich nieder.
Für mich war er nun unsichtbar. Ich ließ den Motor an, fuhr bis zum Tor, verabschiedete mich von der Hofbesitzerin und rollte nach Hause. Es war genau 11.00 Uhr.

Was war das für ein Tag. Es muss noch ein dritter Seliger und Schutzpatron her, um für den heutigen Dussel zu danken.

Da wir aber diesen dritten Mann nicht haben, danke ich Euch beiden, Diana und Hubertus, noch einmal.

Das waren drei Sternstunden meines Jägerlebens. Stunden, die ich nie vergesse.

Gerd Tersluisen (Hegering Gladbeck)