Naturschutz-Posse: Wald roden für einen toten Vogel?

Foto eines Ziegenmelkers, der perfekt getarnt auf einem schrägen Ast sitzt

Tübingen braucht dringend ein größeres Krankenhaus. Doch dem Ausbau des Uniklinikums steht ein Vogel im Wege: ein Ziegenmelker. Für den wäre der Naturschutz sogar bereit, ein paar tausend Bäume zu opfern.

Schuld an allem ist der Ziegenmelker. Nein, nicht der Bauer mit seinen Milchziegen. Gemeint ist ein kleiner Vogel aus der Familie der Nachtschwalben – unscheinbar graubraun gefärbt, überwiegend nachtaktiv und mit einem kurzen, spitzen Schnabel ausgerüstet, der sich zu einem riesigen „Froschmaul“ öffnen kann. 

Mit letzterem kann der Ziegenmelker singen. Passend zum komischen Aussehen knarrt er zwar eher wie ein altes Mofa, aber es kann ja nicht jeder klingen wie eine Nachtigall.

Ziegenmelker sind hierzulande streng geschützt

Ziegenmelker gibt es vor allem in Süd- und Osteuropa, dort gilt er als ungefährdet. Hierzulande dagegen ist er selten geworden. Wie muss sich also jener ornithologisch bewanderte Patient der Uniklinik Tübingen gefreut haben, der vor ein paar Jahren nächtens einen Ziegenmelker vom Dach des Krankenhauses singen hörte!

Tübinger Oberbürgermeister im Stress

Die Freude über den seltenen Piepmatz teilen im Raum Tübingen allerdings nicht alle. Boris Palmer zum Beispiel wäre wohl nicht böse, wenn den Vogel inzwischen die Katze geholt hätte. 

Dabei ist der ehemals bündnisgrüne, inzwischen parteilose Oberbürgermeister von Tübingen mit Sicherheit keine Ziegenmelker-Hasser. Er ist Pragmatiker. Und die haben’s mit der deutschen Bürokratie nicht leicht.

Krankenhaus kontra seltener Vogel

Die Stadt Tübingen wollte nämlich ihr Krankenhaus erweitern. Das bestehende ist für den Bedarf (rund 3 Mio. Menschen sind laut Palmer auf die medizinische Versorgung durch das Uniklinikum angewiesen) zu knapp bemessen, weswegen ein Ausbau bitter nötig wäre. Die Pläne sind fertig, die Finanzierung – rund 500 Mio. Euro – steht … wenn da nicht der Ziegenmelker wäre.

Vogel tot? Macht nix!

Wegen dem nämlich hat die Naturschutzbehörde den Neubau untersagt. Ziegenmelkerschutzzone. Wer kann da schon Rücksicht auf Mängel in der Krankenversorgung nehmen? 

Und auch die Tatsache, dass der Vogel seit über einem Jahr weder gesehen noch gehört wurde, was nahelegt, dass er inzwischen verstorben oder abgewandert ist, ändert daran nichts. Dann ist das Krankenhaus halt Ziegenmelkererwartungsgebiet. So.

Ist das wertvoller Wald oder kann das weg?

Boris Palmer kocht vor Wut über den bürokratischen Irrsinn. Denn tatsächlich habe, so berichtete er in der ZDF-Talkshow „Markus Lanz“, die Behörde einen Ausweg angeboten. Man müsse dem Ziegenmelker in der Nähe seines jetzigen Habitats einfach ein neues Zuhause anbieten. Offenes Land, weil der Vogel das so möge. 

Dumm nur, dass die Uniklinik quasi mitten im Wald steht. Kein Problem für die Behörde. Man solle einfach zehn Hektar vom alten Baumbestand roden, schon passt’s. Und weil Wald ja auch schützenswert ist, soll der Tübinger OB stattdessen an anderer Stelle aufforsten.

Naturschutz: Vernunft am Limit

Die Bürokratie-Posse zieht inzwischen weite Kreise. Palmer bei Lanz: „Der Landrat, der Ministerpräsident, der Regierungspräsident, wir schreiben uns ständig Briefe. Die sind genauso ratlos wie ich. Nicht mal als Ministerpräsident kannst du sagen: Jetzt ist aber Schluss! […] Der Vogel ist so streng geschützt, dass das Strafrecht verhindert, der menschlichen Vernunft zum Erfolg zu verhelfen.“ 

Ein Schelm, wer jetzt an Wölfe und Weidetierhaltung in Deutschland denkt …

Sabine Leopold, agrarheute vom Sonntag, 05.05.2024

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