Von einem Rehbock, dessen ganzes Leben ich begleiten durfte.
Wir trafen uns zum ersten Mal während der Blattzeit. Ich pirschte langsam, von Nord nach Süd durch den Zipfel eines Busches (kleinen Wäldchens), auf eine große Wiesenfläche zu, an deren gegenüberliegender Seite sich ein riesiger Weizenschlag anschloss. Bodennebel lag über der Freifläche. Es versprach ein herrlicher Tag zu werden. Das Gras auf der Wiese stand sehr hoch und hing voller Tautropfen. Sein Schnitt war in den nächsten Tagen zu erwarten.
Am Vortag hatte ich einen selbstgezimmerten transportablen Ansitzbock aufgestellt und ihn gut getarnt. Ihn suchte ich nunmehr auf, machte es mir bequem und legte meine Fotoausrüstung auf meine Oberschenkel. Langsam lichtete sich der Bodennebel und die Wiese vor mir nahm Konturen an. Da erhoben sich plötzlich, ca. 20 Meter vor mir, eine Ricke und ein Bock, trieben sich heftig in Kreis- oder Achterbahnen und pflegten mit Hingabe ihre Liebesträume. Ich konnte diese Situation aufnehmen und besaß nunmehr wunderschöne Dias des Liebespaares im leichten Nebel.
Was ich nicht wusste: Der zwei- oder dreijährige Bock begleitete mich noch elf weitere Jahre, bis zu seinem unrühmlichen Ableben. Mit Ausnahme seines vorletzten und letzten Lebensjahres traf ich ihn immer wieder an der gleichen Äsungsfläche an. Er gab mir viele Möglichkeiten Aufnahmen von ihm zu machen.
Der „Pinkelbock“
Da ich ihn anfänglich immer beim Nässen fotografierte, nannte ich ihn „Den Pinkelbock“. Peng! – Nun hatte er seinen Nahmen weg.
Die schützenden Hände meines Freundes Theo, der in diesem Revierteil das Sagen hatte, ließen den Rehbock sehr alt werden.
Drei Betten dieses Bockes waren mir bekannt. Sie suchte er immer bei entsprechendem Wind auf und hatte die ca. dreihundert Meter lange Wiese vor sich. Seinen Lichtern und seinem Windfang entgingen nichts.
So befand sich ein Bett am Rande eines alten Bombenkraters am westlichen Kopf der Wiese, eines an der Waldspitze in einem großen Brennnesselverhau und eines in einem Horst aus Disteln, auf der östlichen Seite der Äsungsfläche.
Eine etwas andere Pirsch
Wieder einmal wollte ich zur Blattzeit diesen Kerl foppen. Bei dem vorhandenen Wind konnte er nur im Brennnesselverhau an der Spitze des Busches liegen. Pirschen war hier zwecklos.
Da die Wiese und auch der Zipfel des Wäldchens oft von landwirtschaftlichen Aktivitäten gestört wurden, ging ich nicht leise, sondern sehr laut vor. Ich fuhr mit meinem Fahrzeug in den Zipfel hinein und parkte ihn seitlich des Weges. Ein Blick aus dem Fenster des PKW zeigte mir den ruhenden nunmehr ca. siebenjährigen Bock, ohne eine Ricke. Er lag in seinen Brennnesseln.
Das Autoradio lief, ich stieg sprechend aus, rief zwischendurch laut und entnahm meinen PKW den Ansitzbock. Ihn schleppte ich an den Waldrand in die Wiese, tarnte ihn und ging, immer wieder laut redend, zum Fahrzeug, stellte das Radio aus und schlug die Fahrzeugtüren zu.
Der Ansitzbock nahm mich auf. Nunmehr herrschte völlige Ruhe. Nach ca. dreißig Minuten
entlockte ich meinem Rehlocker die ersten Standorttöne. Kaum waren diese Töne verklungen, stand ein zweijähriger Bock vor mir. Obwohl nur dreißig Meter entfernt, nahm er das Klicken der Kamera nicht wahr. Es dauerte nur wenige Sekunden, da warf es den Bock herum und in riesigen Fluchten verließ er den Platz, gefolgt von meinem „Pinkelbock“. – Weg waren beide. Ich ahnte, dass der Alte den Jüngling nur auf Schwung brachte und auf gleicher Fährte wieder zurückkommen würde. Und so war es auch. Der Bock kam, nässte wieder ausgiebig unmittelbar vor mir und wechselte anschließend in seinen Horst aus Brennnesseln. Meine Aufnahmen, natürlich auch vom Nässen, hatte ich im Kasten, zu meiner Freude und zur Freude meiner jagdlichen Mitstreiter.
Wir trafen uns wieder
Nachdem ich den Bock in seinem vorletzten und letzten Lebensjahr nicht gesehen hatte, trafen wir uns zufällig wieder.
Auf der Jagdhütte meines Freundes und unseres damaligen Hegeringleiters Gert H., trafen wir uns zu einer revierübergreifenden Taubenjagd. Bei dieser Taubenjagd klaubte Gert eine frisch gebleichte Rehwildtrophäe hervor und übergab sie einem Jagdfreund mit den Worten: „Waidmannsheil! Solch einen alten Bock schießt du im ganzen Leben nicht noch einmal.“
Der Bock interessierte mich. Der komplette Unterkiefer wies auf ein Alter jenseits der zehn Jahre hin. Ich schaute mir die Trophäe ein weiters Mal genauer an und da fiel es mir wie Schuppen von den Augen.- Das ist doch der „Pinkelbock“, den ich zwei Jahre vermisste.
„Gert, wo und wie wurde dieser Bock erlegt. Ich glaube, ich kenne ihn.“
Was dann kam, war schlichtweg unglaublich
Gert ging am Sonntagvormittag im äußersten Zipfel seines Revieres mit seinem Hund spazieren und traf dort auf einen Bock, der nicht mehr in der Lage war zu flüchten. Er kam einfach nichtmehr hoch. Der Bock blickte ihn, voller Angst und mit Panik in seinen Lichtern, an. Er versuchte sich kriechend in Sicherheit zu bringen. Sofort trat Gert zurück und ließ dem Reh seine Ruhe. Per Mobiltelefon rief er einen Freund aus dem Bläsercorps an, der bei ihm einen Bock erlegen sollte. Er bat ihn, sofort zu kommen. Das wäre zwar keine richtige Jagd, aber solch einen alten roten Waldfreiherren würde er in seinem Leben nichtmehr erlegen.
Alles weitere ist kurz erzählt. Der Bock hatte sich noch kriechend in Sicherheit gebracht, wurde aber vom Schützen mit der Büchse abgefangen.
Auf meine Frage, wo er denn diesen Bock erlegt hätte, nannte mir Gert den genauen Ort.
Und dieser Ort lag, nur getrennt durch ein Bahngleis, fünfzig Meter von der Einstandsgrenze meines alten Bekannten, des „Pinkelbockes“ entfernt. Daher nehme ich an, dass der Bock, aufgrund einer Krankheit, durch den neuen Platzherrn an die Einstandsgrenze und darüber hinausgedrängt wurde. Geschwächt wurde er offensichtlich durch eine zu geringe Nahrungsaufnahme. Sein Leben endete zwar mit seiner Erlegung, tatsächlich aber mit Folgekrankheiten aufgrund des schlechten Ernährungszustandes. Sein Wildbret wurde nicht genutzt.
Der Pinkelbock schob in seinem gesamten Leben nur Durchschnittsgehörne. Nichts Aufregendes also. Die Stangenstellung blieb aber immer gleich. An ihr erkannte man ihn wieder. Der Bock wurde dreizehn oder vierzehn Jahre alt. Sein Alter hängt davon ab, ob er bei unserer ersten Begegnung zwei Jahre, oder ob er drei Jahre alt war.
In der Jagd ist nichts unmöglich
Wer erfolgreich jagen will, muss sein Pirsch- und Ansitzverhalten oftmals umstellen und der Situation anpassen. Nicht immer führt ein leises Pirschen zum Erfolg. Ganz im Gegenteil. Machen Sie einfach ab und zu auf ihren Pirschgängen, dort wo es angezeigt ist, ordentlich Lärm und Sie werden sehen, es klappt. Lärm ist gerade in der Nähe von Städten, wenn nicht nur landwirtschaftliche Aktivitäten, sondern auch Besucheraktivitäten für Unruhe sorgen, zielführender als ruhiges Pirschen. Mit einer leisen Pirsch wäre ich dem Bock niemals so nahegekommen, ja, ich hätte meinen Ansitzbock nie schadlos erreicht. Der Bock hätte mich als Gefahr eingestuft und hochflüchtig sein Bett verlassen.
Gerd Tersluisen (Hegering Gladbeck)