Die Blattzeit ist für mich die schönste Zeit des Jahres. Wenn der Bock auf meinen Lockruf springt und meinen Puls nach oben jagt, wenn das Wetter noch mitspielt und ich meine Kamera mitführe, ist das die Erfüllung all meiner Träume.

In diesem Jahre begann die Brunft sehr früh. Ich hatte offensichtlich schon eine Woche verpasst, als ich mich mit der Kamera auf den Weg machte, um zu guten Aufnahmen zu kommen. Und so war es auch in der Blattzeit. Sie begann schon am 28. Juli und nicht erst am 03.August.

Am 01.August saß  ich in einem größeren Feuchtgebiet, weil Sumpfweiderich und Sumpf-Hornklee noch blühten und ich davon träumte,  Rehwild in diese Blütenpracht locken zu können.
Vor mir lag eine große Fläche, ca. 500 m breit und 2000 m lang. Diese Fläche wurde als Weide und teilweise auch als Acker genutzt, stand aber jetzt zum größten Teil voll brusthohem Pflanzenwuchs. Vor mir war sie aber recht übersichtlich.

Zwei Kitze sprangen in einer Entfernung von 40 m vor mir herum, ästen hier und dort, naschten die roten Blüten des Blutweiderichs und wechselten schließlich ein. Kitze in dieser Blütenpracht. Herz, was willst du noch mehr? – Irgendwo quiekte eine Wasserralle, Kiebitze gaukelten durch die Luft und in der Ferne krächzte ein Graureiher. Nach einer gewissen Zeit der Ruhe griff ich zu meinem Musikinstrument und blattete vorsichtig die erste Serie. Da sich nichts tat, folgte die zweite Serie und schon tauchte ein zweijähriger Gabelbock mit kurzen Stange im dichten Blumengewirr auf, sprang zick-zack durch das hohe Kraut und zog dann vorsichtig auf mich zu. Immer wieder verschwand er in dem dicht stehenden Kraut. Er ließ aber die Vorsicht nicht außer Acht.

Bei Erscheinen des Bockes hatte ich mein Blattkonzert unterbrochen. Das Böckchen wusste ganz genau, woher die Töne kamen. Und so zog es näher und näher und ließ sich dabei immer wieder ablichten.
Plötzlich sprang er nach Westen ab. Nach fünf Sätzen spritzte vor ihm eine Rehdame aus dem Kraut und zog den jungen Herren hinter sich her, bis beide in der Tiefe des Feldes verschwanden.
In 300 m Entfernung vor mir, neben einem Rinderunterstand, entdeckte ich einen schwarzen Punkt, der sich nach Westen bewegte. Schnell hatte ich meinen Blatter zwischen den Lippen und blies. Ich vermutete, dass dieser schwarze Punkt ein schwarzer Bock sei. Der Punkt reagierte und so setzte ich mein Konzert fort, bis der Schwarze keine 60 m vor mir stand. Nun zog er vorsichtig auf mich zu, hob den Windfang, zog die Lippen zurück und ….f l e h m t e.

Meine Kamera zeigte, was in ihr steckte. 16 Aufnahmen des flehmenden Bockes schoss ich, ehe er weiter zog, hinter mir eine Straße querte und verschwand. Ich hielt den Bock, trotz oder gerade wegen seines kümmerlichen Gehörns für alt, ja für sehr alt. Er kam mir im Frühjahr an gleicher Stelle. Dort beobachtete ich, wie er einem braven roten Bock imponierte. Beide Böcke legten die Lauscher zurück, machten so ihr Gehörn frei, tanzten umeinander herum, plätzten und sausten aufeinander zu. Es kam aber zu keinem Kampf, obwohl sein Gegner ihm weit überlegen war. Das Böckchen musste ein alter Bock sein. Ein junger Bock hätte das nie gewagt. Aber so ist das mit dem Ansprechen der Böcke. Während mir das Ansprechen roter Böcke kaum Probleme bereitet, ist das Gegenteil bei schwarzen Böcken der Fall.
Seit 1963 bin ich Jäger, aber einen flehmenden Rehbock habe ich noch nicht gesehen, geschweige denn fotografieren können.
Und so war dieser Morgen für mich etwas ganz Besonderes. Blutweiderich äsende Kitze, einen roten Bock in bunter Blumenpracht und einen schwarzen Bock, der flehmte. Wenn das nichts ist.

Gerd Tersluisen (Hegering Gladbeck)